Der Herbst zieht ins Baltikum ein. Tagsüber herrschen noch wunderbar sommerliche Temperaturen. Abends jedoch ziehen erste Nebelschwaden über dem See auf, die Bäume färben sich bunt, die Pilze sprießen, die Menschen stapeln ihre Holzvorräte und an den Häusern werden die letzten Reparaturen vorgenommen, bevor der kalte Winter einkehrt.
Der Weg von der östlichen „Großstadt“ Lettlands – Daugavpils – zum Aukstaitija Nationalpark in Litauen führt durch eine etwas merkwürdige Gegend. Große hochgesicherte Industrieanlagen ziehen sich über viele Kilometer an der Straße entlang. Im krassen Gegensatz dazu: Kaum Verkehr und Menschen. Erst im Nachhinein erschließt sich uns der Sinn: Wir sind am einzigen Atommeiler Litauens vorbeigefahren, der allerdings 2009 aus Sicherheitsgründen abgeschaltet wurde. Der Rückbau wird 25 bis 30 Jahre dauern, die Kosten sind auf ca. 3 Milliarden Euro taxiert.




Der Aukstaitija Nationalpark wird im Allgemeinen als der „Park der 1.000 Seen“ bezeichnet. Das ist schon ein wenig übertrieben, bedenkt man, dass es im Park 128 Seen gibt! Diese kleine Petitesse sei den Tourismus-Managern gegönnt, umfasst der Park doch eine wunderschöne Landschaft, in der Dörfer, die einem Freilichtmuseum alle Ehre machen, malerisch an den Ufern der Seen verteilt liegen. Die Nachsaison unterstreicht dieses Bild noch, da die Highlights und Campingplätze einsam und verlassen auf die wenigen Besucher warten.




Die Seen sind noch warm genug, um darin zu baden, nur das von der Parkverwaltung bereitgelegte Feuerholz ist leider durch vorangegangene Regenfälle zu nass, schade. Trotzdem ein wunderbarer Ort, um den 20. Hochzeitstag zu feiern 😍…

Und ewig singt der Fadenmäher…
Haben wir schon erwähnt, dass im gesamten Baltikum der Fadenmäher (oder auch Freischneider) ein sehr hohes Ansehen genießt? Überall wird gemäht, was das Zeug hält. Ganze Arbeitskolonnen beseitigen den Bewuchs an Straßenrändern und in Parks, in den Privatgärten summen die fleißigen Maschinen um die Obstbäume herum. Was den Steirern die Kreissäge, das ist dem Balten der Fadenmäher.
Großes Erstaunen auf dem Weg nach Vilnius: Ungefähr 40 km nördlich der Hauptstadt Litauens liegt der von der EU einzig akzeptierte geografische Mittelpunkt Europas. Aus der Sicht des Mitteleuropäers verwundert dies zunächst. Wenn man jedoch bedenkt, dass der europäische Kontinent bis an den Ural reicht, erschließt sich der Sinn dieser Berechnung durchaus. Wenn auch die Herleitung der Berechnungsparameter das ein oder andere Achselzucken ausgelöst wurde. So wurden z.B. die Kanaren mit zum europäischen Kontinent gezählt, Malta nicht etc. Naja, die Experten werden sich wohl dabei etwas gedacht haben…?

Vilnius
Nehmen wir doch einfach mal den Reiseführer her und listen ausschließlich die fett gedruckten Stichworte auf, die sich mit der Stadt und deren Geschichte beschäftigen:
Zeichen der religiösen Toleranz, bewaldete Hügellandschaft, 46% sind Parks und Grünanlagen, die schönste, die pulsierendste, multikultureller Treffpunkt zwischen Ost und West, Zentrum Litauens, Schmelztiegel der Nationalitäten, vorgeschichtliche Zeit, Handelszentrum, Holzburg, deutsche Kaufleute (1320), Obere Burg, Untere Burg, Schiefe Burg, politisches, kulturelles und religiöses Zentrum des Großfürstentums (14. Bis 16. Jhd.), Kreuzritter (1365), Magdeburger Stadtrecht (1387), geschützte Lage, Großbrände (1419, 1530), Handwerkerzünfte (1495), Wasserleitungssystem (1501), Stadtmauer mit 10 Toren und 5 Türmen (1522), Buchdruckerzentrum, feudale Blütezeit im 16. Jhd., Jesuitenkolleg (1570), Niedergang nach der Union von Lublin (1569), Großbrand (1610), Besetzung durch Russland (1651-61), Nordischer Krieg (1700-21), Hunger- und Pestepidemien (1708-11), Großbrände (1737, 1748, 1749), Rom des Nordens, Hauptstadt nach der dritten polnischen Teilung (1795), Unterdrückung nach Aufständen gegen die Zarenherrschaft (1825, 1831), Wirtschaftsaufschwung durch Eisenbahnbau, Schließung von 30 der 40 Kirchen während der Sowjetzeit (1945-90).
Wollt Ihr noch mehr Fakten? Dann kauft Euch ein Buch 😉…
Wir haben uns wohlgefühlt in dieser Stadt. Das mag natürlich diverse Gründe haben:
- Nach zwei Monaten Reisen – vorwiegend in weitgehend einsamer Natur – stand uns der Sinn nach einer Stadt
- Das Wetter hat mitgespielt
- Die Nachsaison machte sich bemerkbar
- Die Stadt hat sich selbst gefeiert. Für die Nürnberger unter Euch: Das hatte was vom Bardentreffen. Viel Musik, umsonst und draußen, Märkte und überall gute Laune













Um nicht zuviel gute Laune aufkommen zu lassen, haben wir uns das KGB-Museum angetan. Auch ohne eine Führung war der Schrecken, der von diesem Gebäude ausging, immer noch zu spüren.




Wer kennt nicht die Freistadt Christiana in Kopenhagen? So etwas gibt es auch in Vilnius und nennt sich Uzupio Res Publika, verfügt über einen Präsidenten, eine Armee aus zwölf Männern, eine eigene Hymne und eine eigene Verfassung, die wir Euch nicht vorenthalten wollen:
- Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.
- Jeder Mensch hat das Recht auf heißes Wasser, Heizung im Winter und ein Ziegeldach.
- Jeder Mensch hat das Recht zu sterben, ist jedoch hierzu nicht verpflichtet.
- Jeder Mensch hat das Recht, sich zu irren.
- Jeder Mensch hat das Recht, einzigartig zu sein.
- Jeder Mensch hat das Recht zu lieben.
- Jeder Mensch hat das Recht, nicht geliebt zu werden, jedoch nicht unbedingt.
- Jeder Mensch hat das Recht, weder berühmt noch bekannt zu sein.
- Jeder Mensch hat das Recht, zu faulenzen oder nichts zu tun.
- Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
- Jeder Mensch hat das Recht, für seinen Hund zu sorgen, bis einer von beiden stirbt.
- Ein Hund hat das Recht, Hund zu sein.
- Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Hausherrn zu lieben, aber in schweren Momenten muss sie ihm beistehen.
- Jeder Mensch hat das Recht, manchmal nicht zu wissen, ob er Verpflichtungen hat.
- Jeder Mensch hat das Recht zu zweifeln, ist jedoch hierzu nicht verpflichtet.
- Jeder Mensch hat das Recht glücklich zu sein.
- Jeder Mensch hat das Recht unglücklich zu sein.
- Jeder Mensch hat das Recht zu schweigen.
- Jeder Mensch hat das Recht zu glauben.
- Kein Mensch hat das Recht, Gewalt auszuüben.
- Jeder Mensch hat das Recht, seine Nichtigkeit und seine Größe zu begreifen.
- Niemand hat das Recht, nach der Ewigkeit zu trachten.
- Jeder Mensch hat das Recht zu verstehen.
- Jeder Mensch hat das Recht, nichts zu verstehen.
- Jeder Mensch hat das Recht, verschiedenen Nationalitäten anzugehören.
- Jeder Mensch hat das Recht, seinen Geburtstag zu feiern oder nicht zu feiern.
- Jeder Mensch ist verpflichtet, sich an seinen Namen zu erinnern.
- Jeder Mensch darf mit anderen teilen, was er hat.
- Kein Mensch kann mit anderen teilen, was er nicht hat.
- Jeder Mensch hat das Recht auf Geschwister und Eltern.
- Jeder Mensch darf frei sein.
- Jeder Mensch ist für seine Freiheit verantwortlich.
- Jeder Mensch hat das Recht zu weinen.
- Jeder Mensch hat das Recht, unverstanden zu bleiben.
- Kein Mensch hat das Recht, einen anderen schuldig zu machen.
- Jeder hat das Recht auf Persönlichkeit.
- Jeder Mensch hat das Recht, keine Rechte zu haben.
- Jeder Mensch hat das Recht, keine Angst zu haben.
- Besiege nicht.
- Wehre dich nicht.
- Gib nicht auf.





Denjenigen, die ein Hostel oder auch eine nette Campsite in der Stadt suchen, empfehlen wir unbedingt das Downtown Forest Hostel and Camping (www.downtownforest.lt). Sehr cool, mitten in der Stadt, netter Service, super Biergarten.



Nach drei Tagen in der großen Stadt beschlossen wir das Thema Litauen – und somit das Baltikum – im Dzukija Nationalpark. Abseits der Touristenströme ist dieser Park eh schon relativ ruhig. Am Ende dieser Saison war gar nichts mehr los. Somit konnten wir die Ruhe nach der urbanen Hektik voll genießen.
Nahebei mussten wir uns noch den etwas skurrilen Skulpturenpark von Grutas ansehen. Der mit Champignonexporten reich gewordene V. Malinauskas hat auf seinem Privatgelände 86 Statuen und Denkmäler aus der Sowjetzeit zusammengetragen, die nach der Unabhängigkeit Litauens abgebaut wurden und in irgendwelchen Hinterhöfen zu verrotten drohten.





Unsere (natürlich völlig subjektive) Zusammenfassung zu Litauen
Wenn man mal von den akustischen Belästigungen absieht, die einen Aufenthalt in einem Nationalpark während der Hauptsaison empfindlich stören kann (siehe hier), steht Litauen für uns an Platz 2 der baltischen Länder. Dörfer mit vielen Holzhäusern, schöne Parks, eine sehr sympathische Hauptstadt, das beste nichtalkoholische Bier… Der Wermutstropfen: die im Baltikum aggressivsten Autofahrer. Aber kein Vergleich mit den polnischen Nachbarn. Dazu später mehr…